XXII
Mir war, als käme der Zug nicht vorwärts. Um
elf Uhr war ich in Bougival. Kein Fenster im Haus war erleuchtet,
und als ich läutete, rührte sich nichts.
Das begegnete mir zum ersten Male.
Endlich ließ der Gärtner mich herein. Nanine kam mir mit einem
Licht entgegen. Ich ging in Marguerites Zimmer.
,Wo ist die gnädige Frau?'
,Die gnädige Frau ist nach Paris gefahren.'
,Nach Paris?' ,Ja.' ,Wann?' ,Eine Stunde später als Sie.' ,Hat sie
nichts für mich hinterlassen?'
,Nein.' Nanine ließ mich allein.
Sie ist fähig und glaubt mir nicht, dachte ich. Sie ist nach Paris
gefahren, um sich zu vergewissern, daß ich mich auch wirklich mit
meinem Vater treffe und den Besuch bei ihm nicht zum Vorwand nehme,
mich dort einen Tag allein zu vergnügen.
Vielleicht hatte Prudence ihr auch in einer wichtigen Angelegenheit
geschrieben. Aber ich hatte Prudence doch gesehen, und sie hatte
mir nichts gesagt, was vermuten ließ, daß sie ihr geschrieben
hatte. Plötzlich erinnerte ich mich an Frau Duvernoys Frage: ,Sie
kommt also heute nicht nach Paris?', als ich ihr gesagt hatte,
Marguerite sei krank. Ich entsann mich jetzt auch der Verwirrung,
in die diese Frage, die ein Rendezvous zu verraten schien, Prudence
versetzt hatte. Dann kam mir die Erinnerung an Marguerites Tränen
während des ganzen Tages, Tränen, die ich durch den gütigen Empfang
meines Vaters ein wenig vergessen hatte. Von diesem Augenblick an
gruppierten sich alle Ereignisse des Tages um diesen letzten
Verdacht und festigten sich in meinen Gedanken so sehr, daß alles,
bis auf das mir erwiesene Verständnis meines Vaters, zueinander
paßte. Marguerite hatte fast gefordert, daß ich nach Paris ging.
Sie hatte sich bemüht, ruhig zu erscheinen, als ich vorschlug, bei
ihr zu bleiben. War ich in eine Falle geraten? Betrog mich
Marguerite? Hatte sie damit gerechnet, rechtzeitig vor mir zurück
zu sein, so daß ich ihre Abwesenheit nicht bemerkte, und war sie
zufällig aufgehalten worden? Warum hatte sie Nanine nichts gesagt?
Warum hatte sie mir nicht geschrieben? Was sollten ihre Tränen,
ihre Abwesenheit, all dies Geheimnisvolle, was sollte es
bedeuten?
Das fragte ich mich mit Schrecken in den leeren Zimmern, den Blick
starr auf die Uhr gerichtet. Sie zeigte Mitternacht, als wolle sie
mir sagen, es sei zu spät, um meine Geliebte heute noch zu
erwarten. War es möglich, daß sie mich betrog, nach allem, was wir
für die Zukunft geplant hatten und den Opfern, die sie für mich
gebracht hatte? Nein, das war unwahrscheinlich!
Das arme Mädchen wird einen Käufer für seine Sachen gefunden haben.
Es wird nach Paris gefahren sein, um dort alles Nähere zu
vereinbaren. Es hat mir nichts davon gesagt, weil es weiß, daß mir
diese für unser Glück notwendige Versteigerung trotz meiner
Einwilligung sehr unangenehm ist. Sie fürchtet, mich zu verletzen,
und hat, um mich zu schonen, nichts gesagt, denn sie wollte mich
vor die vollendete Tatsache stellen. Deshalb auch wartete Prudence
auf Marguerite, wie sie mir durch ihre Verlegenheit verriet.
Marguerite konnte sicher nicht alles in so kurzer Zeit erledigen,
wie sie gehofft hatte, und würde bei Prudence schlafen. Vielleicht
würde sie auch jeden Augenblick zurückkommen, denn sie mußte sich
doch denken, wie sehr mich ihr Ausbleiben beunruhigte, und das war
sicher nicht ihre Absicht. Aber warum diese Tränen? Vielleicht,
weil das arme Kind sich trotz seiner Liebe zu mir nicht ohne
Bedauern von seinem Reichtum trennen konnte. Denn bisher war sie
von Luxus umgeben, glücklich und begehrenswert gewesen.
Ich wollte es gern entschuldigen, wenn Marguerite deshalb traurig
war. Mit Ungeduld erwartete ich sie, um ihr unter Küssen zu sagen,
daß ich den Grund ihrer Abwesenheit geahnt hätte.
Aber die Nacht rückte vor und Marguerite kam nicht. Die Unruhe
engte meine Gedanken immer mehr ein. Ich wußte kaum noch, was ich
dachte, was ich fühlte. Vielleicht war ihr etwas zugestoßen?
Vielleicht war sie verletzt, krank, tot? - Vielleicht würde gleich
ein Bote erscheinen, um mir eine schreckliche Nachricht zu bringen?
Vielleicht auch würde mich der neue Tag in der gleichen Unruhe, der
gleichen Sorge finden! Der Gedanke, daß Marguerite mich betrügen
könnte, während ich angstvoll auf sie wartete, schien mir unsinnig.
Es mußte etwas Unvorhergesehenes geschehen sein, was sie von mir
fernhielt. Je länger ich darüber nachdachte, um so überzeugter war
ich, daß nur ein Unglück geschehen sein könne. Oh, männliche
Eitelkeit, du zeigst dich in allen Formen!
Es schlug ein Uhr. Ich wollte noch eine Stunde warten. Wenn
Marguerite um zwei Uhr nicht zu Hause war, wollte ich nach Paris
gehen. Ich suchte nach einem Buch, um nicht mehr denken zu müssen.
,Manon Lescaut' lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Einige Seiten
sahen aus, als seien sie mit Tränen benetzt worden. Ich blätterte
eine Weile darin und schloß es wieder. Sein Inhalt erschien mir in
meinen Ängsten ohne jeden Sinn.
Langsam verstrich die Stunde. Der Himmel hatte sich inzwischen
bedeckt. Herbstregen schlug gegen die Fenster. Das leere Bett kam
mir wie ein Grab vor. Ich fürchtete mich. Ich öffnete die Türe.
Aber man hörte nur das Brausen des Windes in den Bäumen. Nicht ein
einziger Wagen fuhr auf der Straße. Die Kirchturmuhr schlug traurig
die halbe Stunde. Jetzt hatte ich sogar Furcht, ein Unbefugter
könne ins Haus eindringen. Mir war zumute, als würden diese Stunde
und dieses Wetter das Unglück begünstigen. Es schlug zwei Uhr. Ich
wartete noch ein wenig. Nur das gleichförmige, eintönige Ticken der
Uhr war zu hören.
Ich verließ das Zimmer. Jeder Gegenstand weckte traurige
Erinnerungen in mir und verstärkte die Leere in meinem
Herzen.
Im Nebenzimmer fand ich Nanine. Sie war über ihrer Arbeit
eingeschlafen. Als ich die Türe öffnete, erwachte sie und fragte,
ob ihre Herrin zurück sei.
,Nein, aber wenn sie kommt, sage ihr, die Sorge um sie hätte mich
nach Paris getrieben, ohne daß ich ihre Rückkehr hier abgewartet
hätte.' ,Um diese Zeit nach Paris?' ,Ja.'
,Aber Sie werden keinen Wagen finden« ,Ich gehe zu Fuß.' ,Aber es
regnet ja!' ,Was macht das?'
,Die gnädige Frau wird bald zurückkommen, und wenn sie heute doch
nicht mehr kommen sollte, dann ist morgen am Tage immer noch Zeit,
nachzuforschen, was sie aufgehalten hat. Sie könnten unterwegs
ermordet werden!' ,Diese Gefahr besteht nicht, meine liebe Nanine.'
Das gute Mädchen holte mir einen Mantel, legte ihn mir um und bot
sich an, Frau Arnould zu wecken und sich bei ihr zu erkundigen, ob
sie einen Wagen besorgen könne. Ich wollte das nicht, denn ich
fürchtete, durch diesen, wahrscheinlich vergeblichen Versuch zu
viel Zeit zu verlieren. Inzwischen konnte ich schon den halben Weg
zurückgelegt haben. Außerdem wollte ich frische Luft atmen und müde
werden, um meiner Erregung Herr zu werden.
Ich nahm den Schlüssel der Rue d'Antin zu mir, sagte Nanine, die
mich bis ans Gartentor begleitet hatte, adieu und begann meine
Wanderung. Zuerst lief ich schnell, da aber der Boden feucht war,
wurde ich doppelt so rasch müde. Nach einer halben Stunde mußte ich
rasten. Ich war schweißgebadet. Nachdem ich Atem geschöpft hatte,
ging ich weiter. Es war so finster, daß ich befürchtete, jeden
Augenblick gegen einen Baum zu laufen. Plötzlich sah ich sie dicht
vor mir wie Gespenster, die auf mich zueilten.
Ein oder zwei Mietskutschen begegnete ich, die jedesmal bald im
Dunkel untertauchten.
Ein geschlossener Wagen fuhr in raschem Trab in Richtung Bougival.
In dem Augenblick, als er an mir vorbeifuhr, hatte ich die
Hoffnung, Marguerite würde darin sitzen. Ich blieb stehen und rief:
,Marguerite! Marguerite!' Aber niemand antwortete mir, und der
Wagen fuhr vorüber. Ich sah ihm nach und ging dann weiter. Zwei
Stunden brauchte ich insgesamt bis zur Schranke am Etoile. Der
Anblick von Paris gab mir wieder Kraft. Ich eilte die lange Allee
entlang, über die ich schon so oft in früheren Zeiten gegangen war.
In jener Nacht begegnete mir niemand. Die Allee war ausgestorben
wie die Promenade einer toten Stadt. Der Tag graute.
Als ich die Rue d'Antin erreichte, rührte sich die Stadt schon ein
wenig, ehe sie ganz aus ihrem Schlaf erwachte. Auf der Kirchturmuhr
von Saint-Roche schlug es fünf Uhr, als ich Marguerites Haus
betrat.
Ich rief dem Portier meinen Namen zu. Er hatte oft genug
Zwanzig-Francs-Stücke von mir erhalten, um zu wissen, daß ich ein
Recht hatte, um fünf Uhr morgens zu Fräulein Gautier zu
gehen.
Ich konnte also ungehindert die Treppe hinaufgelangen. Ich hätte
ihn zwar fragen können, ob Fräulein Gautier zu Hause sei. Aber er
hätte mir mit ,Nein' antworten können. Ich wollte lieber zwei
Minuten länger Ungewißheit haben, denn solange ich zweifelte,
hoffte ich noch. Ich horchte an der Türe, ob ich ein Geräusch oder
eine Bewegung hörte. Nichts. Die ländliche Stille schien sich bis
hierher ausgedehnt zu haben. Ich öffnete die Türe und trat ein.
Alle Vorhänge waren hermetisch geschlossen. Die im Eßzimmer zog ich
auf, ging zu Marguerites Zimmer und öffnete eilig die
Türe.
Ich sprang auf die Vorhangschnur zu und zerrte sie
herunter.
Die Vorhänge öffneten sich, das Morgengrauen drang
herein. Ich eilte zum Bett. Es war leer.
Eine Türe nach der anderen öffnete ich, sah in alle Zimmer.
Niemand. Es war, um verrückt zu werden. Ich ging ins
Ankleidezimmer, öffnete das Fenster und rief mehrmals Prudences
Namen. Das Fenster von Frau Duvernoy blieb geschlossen. Dann lief
ich hinunter zum Portier und fragte, ob Fräulein Gautier dagewesen
sei.
,Ja', antwortete mir der Mann, ,mit Frau Duvernoy.' ,Hat sie nichts
für mich hinterlassen?' .Nein.' ,Wissen Sie, was sie dann gemacht
haben?' ,Sie sind in einen Wagen gestiegen.' ,In was für einen
Wagen?' ,In einen herrschaftlichen Wagen.' Was sollte das bedeuten?
Ich läutete im Nebenhaus. ,Zu wem wollen Sie?' fragte mich der
Pförtner, als er mir öffnete. ,Zu Frau Duvernoy.'
,Sie ist nicht nach Hause gekommen.' ,Wissen Sie das
genau?'
Ja, hier ist auch noch ein Brief, den man gestern abend abgab und
den ich noch nicht weiterleiten konnte.' Der Portier zeigte mir den
Brief. Mechanisch blickte ich darauf. Ich erkannte Marguerites
Handschrift. Ich griff nach dem Brief. Die Adresse lautete: ,An
Frau Duvernoy für Herrn Duval.' ,Dieser Brief ist für mich', sagte
ich zum Portier und zeigte ihm die Adresse.
,Sind Sie Herr Duval?' fragte mich der Mann. Ja.'
,Ach, jetzt erkenne ich Sie, Sie waren des öfteren bei Frau
Duvernoy.'
Sobald ich auf der Straße war, öffnete ich den Umschlag. Wäre der
Blitz zu meinen Füßen eingeschlagen, ich hätte darüber nicht
entgeisterter sein können als über diesen Brief. ,Wenn Sie diesen
Brief lesen, Armand, bin ich schon die Geliebte eines anderen
Mannes. Alles ist also zwischen uns aus.
Kehren Sie also zu Ihrem Vater zurück, mein Freund, sehen Sie Ihre
Schwester wieder, ein junges, ehrbares Mädchen, das von unseren
Nöten nichts weiß. Bei ihr werden Sie bald vergessen, wieviel
Kummer Ihnen ein gefallenes Mädchen bereitet hat, das Marguerite
Gautier heißt. Es verdankt Ihnen die einzigen glücklichen
Augenblicke ihres Lebens, das, wie sie befürchtet, nicht mehr lange
währen wird.'
Als ich das letzte Wort gelesen hatte, glaubte ich, den Verstand zu
verlieren.
Einen Augenblick befürchtete ich ernstlich, auf der Straße
niederzusinken. Mein Blick trübte sich, das Blut hämmerte in meinen
Schläfen. Endlich faßte ich mich ein wenig. Ich blickte mich um und
war erstaunt zu sehen, daß das Leben der anderen weiterlief, ohne
von meinem Unglück berührt zu werden.
Ich war nicht stark genug, um den Schlag, den Marguerite mir
versetzt hatte, allein auszuhalten.
Ich erinnerte mich, daß mein Vater mit mir in derselben Stadt
weilte, daß ich in zwei Minuten bei ihm sein konnte und er, wie
auch immer mein Kummer sein mochte, ihn mit mir teilen
würde.
Ich lief wie ein Verrückter, wie ein Dieb zum Hotel. Der Schlüssel
steckte an der Türe meines Vaters. Ich trat ein. Er las.
Er war so wenig erstaunt, mich zu sehen, daß man meinen konnte, er
habe mich erwartet.
Ich warf mich wortlos in seine Arme, gab ihm Marguerites Brief,
sank vor seinem Bett zur Erde und weinte heiße Tränen.